Angekommen sein: es geschafft haben?
Mit zunehmender Reife entwickelt das durchschnittliche menschliche Wesen einen immer stärker werdenden Wunsch, endlich ‘angekommen’ zu sein. Doch wo soll dieses Erreichte sein, was ist damit gemeint – ein Ort, ein Zustand, ein Status? Was oder wen – außer mir selbst – brauche ich, um wirklich vollends entwickelt und ‘flügge’ sein zu können? Geht das nur mit fremder Hilfe, oder vielleicht doch nur alleine?
Die Kennzeichen hierfür sind so variabel, wie es die Individualität des menschlichen Wesens ist, zudem verändern sich diese mit der Zeit. Das deutlichste Erkennungsmerkmal dafür, angekommen zu sein, empfinde ich im Erreichen eines bestimmten Grades der persönlichen Entwicklung, einen frei entfalteten ‘Seinszustand’. In diesem friedvollen Zustand sehe ich keine zwingende Verbindung zu gesellschaftlichen Idealvorstellungen, oder einem idealisierten ‘Habenszustand’ der materiellen Welt.
Kann ich denn wirklich authentisch und ich selbst sein, wenn ich fremden Idealen nacheifere?
Der Begriff des ‘angekommen sein’ umschreibt in meinen Augen eine ganze Ansammlung von Gefühlen: sich der Aufgabe des eigenen Daseins und der eigenen Haltung sicher zu sein, im Hier und Jetzt das Richtige zu leben und erreicht zu haben, sich selbst wie auch andere mitfühlend zu lieben, keine vermeidbare Schuld belastend mit sich zu tragen, innerlich frei und in bestehender Offenheit von sich überzeugt zu sein, all dies in Verbindung mit einer nachhaltigen und überschaubaren Perspektive. Ich rede also von dem befreienden und zugleich erfüllenden Empfinden, dass man mit sich selbst und der Welt so sehr im Reinen ist, dass man notfalls sogar dem Tod mit Gleichmut begegnen könnte.
Erweitere ich diesen Zustand auf mein nächstes Umfeld, meine Partnerschaft, Familie und Freunde, dann ruht in mir das bereichernde Gefühl, stets das mir Mögliche und damit Beste für meine Liebsten gegeben, ihnen im Rahmen meiner Möglichkeiten geholfen, auf materieller Ebene bestenfalls für diese vorgesorgt zu haben. Auch die weiteren Ebenen der Gemeinschaft, bis hin zu meiner beitragenden Rolle als einzelnes Individuum als Teil dieser Welt, lassen sich angemessen in diesen Zustand übertragen. Es wird allerdings mit jeder Ebene zunehmend schwieriger, sich hierbei an reinen Werten zu orientieren, da die Gesellschaft im heutigen Zeitgeist stark durch materielle Leitbilder und einengende Normen überlagert ist.
An sich eine schöne Vorstellung, sofern unliebsame Gefühle diese nicht vermiesen!
Das Leben könnte so schön sein, wenn da nicht etwas permanent stören, oder immer wieder aus der Versenkung auftauchen könnte, was das eigene Dasein belasten, in Frage stellen oder gefährden könnte. Unvorhersehbaren Konfrontationen mit Schicksalsschlägen und anderen äußeren Einflüssen lässt sich kaum entkommen, doch ich kann zumindest innerlich gut dafür gerüstet sein. Die beste Vorsorge dürfte darstellen, jederzeit über das erwünschte Soll und Ist orientiert zu sein (nicht, daran festzuhalten!), über eine Art inneren Notfallplan zu verfügen, sowie ein möglichst zuverlässiges Umfeld an hilfreichen Anlaufstellen zur Verfügung zu haben.
Diese Art von auffangendem Netz kann das zwar das Schlimmste verhindern, in der Not für schnelle Unterstützung sorgen, doch keineswegs verhindern, dass eine Angst vor dem Unvorhersehbaren bestehen bleibt, oder bestehende Missstände zuverlässig erkannt und auch beseitigt werden. Die darauf basierenden Gefühle können nur methodisch beeinflusst werden. Eine Lebensversicherung kann ebenso wenig vor dem Tod schützen, wie eine Krankenversicherung vor einer Krankheit, eine Arbeitslosenversicherung vor der Arbeitslosigkeit, oder eine Eheschließung vor einer Trennung. Doch die eigene Reaktion darauf liegt sogar bei Nichtstun stets in der Verantwortung der eigenen Handelns.
Das Mindeste, was ich tun kann, ist eine präventive Bewertung denkbarer Konsequenzen.
Genau hier kann sich dieser Kreis schließen: je mehr ich über mein Dasein und dessen wirksame Faktoren für meine stabile Gesundheit, finanzielle Lage und beständige Beziehungen orientiert bin, desto mehr kann ich auch gezielt vorsorgen. Kenne ich umfassend meine körperlichen, geistigen und sozialen Bedürfnisse, sowie die Wege, wie ich diese schadlos befriedigen kann, so kann ich Misserfolge und Verluste weitsichtig vermeiden. Je mehr ich darüber weiß, womit und mit wem ich es zu tun habe, desto eher bin ich vor unangenehmen Überraschungen sicher.
Dies setzt voraus, dass ich eigenverantwortlich handle, indem ich mich nicht nur mit meinen eigenen Fähigkeiten und Grenzen beschäftige. Höchst stabilisierend wirkt es sich auch aus, entscheidende Details über mein Umfeld und jede Art von Beziehungspartner zu kennen und zu akzeptieren. Bin ich darauf angewiesen, dass andere von sich selbst auf mich schließen müssen, oder kann ich eigene Grenzen nicht respektvoll beachten, so sind unschöne Grenzverletzungen und darauf basierende Konflikte genauso die unausweichlichen Folgen, wie es dann auch in Gegenrichtung der Fall sein wird.
Was kann ich also tun, um mir das Leben leichter und sicherer zu gestalten?
Die Antwort lautet: aktive innere Arbeit! Wenn ich mein Innerstes betrachte und erforsche, kann ich mein eigenes Wesen vollständig verstehen, die variablen Grenzen meiner eigenen Welt finden und somit auch schützen. Dieses Training ermöglicht es mir, die eigenen Wirkanteile im täglichen Geschehen zu erkennen, meine Gefühle zu benennen und zu beherrschen, Schmerzen und Ängsten achtsam zu begegnen und auffällige Wechselwirkungen sinnbildend zu betrachten. Ich ermögliche mir damit nicht nur, Nachteiliges zu vermeiden, sondern auch aktiv rücksichtsvoll zu handeln, um eigene Interessen noch besser wahrnehmen und fremden gezielt entgegenkommen zu können.
Vor allem jedoch erkenne ich viel deutlicher, was wirklich gut für mich ist, statt mich unbewusst an fremden Irrlichtern orientieren zu müssen. Ein erweitertes Selbstbewusstsein führt nicht nur zur Stärkung der eigenen Überzeugung und Dankbarkeit, sondern bewirkt auch die Ausstrahlung mehr innerer Größe, Demut und Authentizität. Ich habe es damit nicht mehr nötig, mich in Unsicherheit zu verstellen oder zu verbiegen, sondern ich kann mich nun mich nun gezielt und gewollt einer Situation anpassen, diese klärend hinterfragen, bei Bedarf aktiv beeinflussen und bei Nichtgefallen auch ablehnen.
Schau der Furcht in die Augen und sie wird zwinkern (Russische Weisheit)
Diese Verbindlichkeit vermittelt eine wahrnehmbare Sicherheit und gibt mir persönlich bis heute das Gefühl, angekommen zu sein, indem ich im Hier und Jetzt völlig ‘bei mir’ sein kann, um dies auch aktiv leben zu können. Hilfreiche Methoden, dies zu erreichen, sind nicht das Thema dieses Beitrags, sein Sinn wird mit dem Erkennen der Notwendigkeiten erfüllt. Es ist jedoch nie zu spät, sich erweiternd mit den Eigenheiten des eigenen Wesens und dem Sinn des Lebens zu beschäftigen, sei es nun alleine oder auch mit fremder Hilfe. Die hierzu aufgebrachte Disziplin wird um ein Vielfaches mit einer Leichtigkeit des Seins belohnt.
Hat man dies selbst erreicht, kann man es jedem anderen nur wünschen, in dieser Weise angekommen zu sein.
Euer Leocarus